Wissensdrang - Der Uroletter von APOGEPHA
RECHTLICHES
Wenn PatientIn nicht „will“!?
Seit Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes können die Krankenkassen die Versicherten bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen nicht nur unterstützen, sie sollen es sogar (§ 66 SGB V).

Im Jahr 2021 wurden vom Medizinischen Dienst 13.050 Behandlungsfehlergutachten in Auftrag gegeben. Bei 25 % der Gutachten wurde ein Behandlungsfehler erkannt1.
Der Fall
Ein 6-Jähriger wird stationär bei akutem Harnverhalt zur „Einlage eines Blasenkatheters bei bekannter Phimose und Balanoposthitis“ aufgenommen. Es erfolgt eine Zirkumzision in Allgemeinnarkose.

Vier Tage später sei es durch einen Tritt in die Genitale „zu einer traumatisch bedingten sekundären Blutung“ gekommen. Stationär kann die Blutung durch einen „passageren transurethralen Blasenkatheter und Druckverband“ gestillt werden. Drei Tage später wird der Katheter entfernt: „im Frühdienst in der Wanne gezogen - unter erheblichem Protest und großer Abwehr“.

Wegen einer Enuresis nocturna wird bei dem jetzt 7-Jährigen ein Uroflow/EMG durchgeführt. Dabei zeigt sich eine Plateaukurve. Es wird der „Verdacht auf eine subvesikale Enge“ gestellt und Propiverin “5 mg“ und eine „Urotherapie (8 x täglich Miktion) Trinkverhalten“ verordnet. Die Klinik empfiehlt „die Durchführung einer Miktionscysturethrographie. Bei sehr ängstlichem Kind kann auch eine Blasenspiegelung und ggf. Laserung und Meatuskalibrierung und -bougierung erwogen werden“. Bei der Therapieplanung wird schon dokumentiert: „ggf. simultan auch Kinder- und Jugendpsychologe“.

Die Urethrocystoskopie wird durchgeführt – das Kind ist jetzt 8 Jahre alt. Dabei „Harnröhrenbougierung bis 12 Charrière und eine transurethrale Laserresektion der Harnröhrenklappen“.

In Vorbereitung der Narkose wird „versucht, ein EMLA Pflaster zu kleben. Dabei schlug der Junge um sich. Beim Versuch, die präoperative Medikation zu verabreichen, wurde diese aus der Hand geschlagen. Das Kleben des EMLA Pflasters war nicht möglich. Daraufhin verabreichte man dem Kind Midazolam rektal. Dabei musste er von vier Pflegekräften und den Eltern festgehalten werden. Der Versicherte schlug weiter um sich“ […] „Bis zu seiner Entlassung hätte der Junge nicht mehr gesprochen und ist danach in Kinder- und Jugendpsychiatrischer Behandlung“.
Gutachterliche Beurteilung
Die Eltern haben Antrag bei der Krankenkasse gestellt, zu überprüfen, ob ihr Kind als „Angstpatient“ regelgerecht behandelt wurde. Der Medizinische Dienst hat ein Gutachten beauftragt.

Bei dem 8-Jährigen wurde eine subvesikale Obstruktion festgestellt. Die Indikation zu einer Harnröhren- und Harnblasenspiegelung ist unstrittig – es wurden dabei Harnröhrenklappen als Ursache der Obstruktion identifiziert und endoskopisch reseziert.

Die Einleitung der Narkose war unprofessionell. Die Übergriffigkeit des Personals stellt einen Behandlungsfehler dar, da die Operation elektiv war. Eine Vorbereitung des Jungen auf die Narkose hätte mit einem Kinder- und Jugendpsychologen erfolgen müssen.

Eine Narkoseeinleitung wird als besondere Stresssituation erlebt2. Dieser präoperative Stress wird als Auslöser von Verweigerung, aggressivem Verhalten, postoperativen Verhaltensstörungen und posttraumatischem Stress Syndrom erkannt3.

Perioperative Angst und daraus resultierende mangelnde Kooperation bei der Narkoseeinleitung sind ein häufiges Problem in der Kinderanästhesie. Das Ausmaß der Angst hängt von verschiedenen kindlichen, aber auch von elterlichen Faktoren, dem Anästhesieteam sowie der kinderfreundlichen Atmosphäre und Infrastruktur des Krankenhauses ab. Neben einer Prämedikation gibt es verschiedene nicht-pharmakologische Maßnahmen, um die kindliche Angst zu reduzieren und damit die Narkoseeinleitung zu erleichtern. Bleibt das Kind trotz aller vorbereitenden Maßnahmen weiterhin unkooperativ, muss grundsätzlich unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien entschieden werden, ob der Eingriff, falls medizinisch vertretbar, verschoben wird oder ob die Narkoseeinleitung unter Anwendung von körperlichem Zwang durchgeführt werden soll4.

Bei älteren Kindern oder Adoleszenten, die die Tragweite ihres Verhaltens einsehen können, ist es meist klug, den geplanten Eingriff zu verschieben, wenn das Kind sich gegen die Narkoseeinleitung bei einem elektiven Eingriff sträubt5. Nicht alle Operationen müssen auf Wunsch von Eltern und Chirurgen gemacht werden. Die Autonomie des Adoleszenten muss respektiert werden. Extrem selten wird es vorkommen, dass kompetente adoleszente Patienten einen notfallmäßigen indizierten Eingriff verweigern: hier ist es angezeigt, konsiliarisch einen Psychologen oder einen psychiatrischen Kollegen beizuziehen.
Der rechtlicher Kommentar - RA Dr. Oliver Pramann
Der vorliegende Fall ist rechtlich interessant, weil er verschiedene Bereiche und Ebenen berührt, nämlich insbesondere Fragen der Haftung, der Beteiligung von Minderjährigen an Aufklärung und Einwilligung und Anwendung von Zwang im Rahmen einer ärztlichen Behandlung.
Ebene der Haftung für Behandlungsfehler
Ebene der Aufklärung und Einwilligung
Ebene der zwangsweisen Behandlung
Fazit
Bei der Behandlung von Minderjährigen schätzt der Behandelnde immer erst die Einwilligungsfähigkeit des Patienten ein:
Kann er Wesen und Trageweite der Behandlung verstehen und seinen Willen danach ausrichten? Ist dies der Fall, muss das Kind im Prozess von Aufklärung und Einwilligung einbezogen werden. Anderenfalls werden nur die Sorgeberechtigten aufgeklärt und deren Einwilligung eingeholt. Die Informationen für den Patienten richten sich hier nur noch auf solche, die er nach seinem Entwicklungstand aufnehmen kann.

Sollten Behandlungen unter Zwang in Betracht kommen, muss die Entscheidung in enger Abstimmung mit den Sorgeberechtigten und unter sorgfältiger Abwägung im Rahmen der medizinischen Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen. Wie immer ist eine saubere Dokumentation angezeigt.
Der Autor
Prof. Dr. med. Thomas Enzmann,
Klinik für Urologie und Kinderurologie am Universitätsklinikum Brandenburg an der Havel
Der Koautor und Jurist
Dr. Oliver Pramann,
Fachanwalt für Medizinrecht,
Hannover
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Quelle:
1 https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Pressemitteilungen/2022/2022_06_30/22_06_30_PK_BHF_Jahresstatistik
_BEHANDLUNGSFEHLER_2021_BF.pdf; Zugegriffen: 17.02.2023.
2 Watson AT, Visram A (2003) Children's preoperative anxiety and postoperative behaviour. Paediatr Anaesth 13(3):188-204.
3 Machotta A (2007): Das unkooperative Kind. Tipps und Tricks in der Kinderanästhesie. Vortrag Erasmus Medical Center Rotterdam: Der schwierige Atemweg (ak-kinderanaesthesie.de).
4 Zutter A, Frei FJ (2011) Uncooperative children during induction of anesthesia : theory and practice. Anaesthesist 60(8):743-50.
5 Walker H (2009) The child who refuses to undergo anesthesia and surgery – a case scenario-based discussion of the ethical and legal issues. Paediatr Anaesth 19:1017-1021.

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